Wer sind die Deutschen? Dieser Dauerbrenner deutscher Identitätsdebatten seit dem frühen 19. Jahrhundert erlebte mit der deutschen Wiedervereinigung eine neue Wendung: Welche Folgen hatte sie für die nationale Identität? Welchen Platz in Europa und in der Welt sollte Deutschland aus Sicht der Deutschen einnehmen? In ihrer dreibändigen Sammlung „Deutscher Erinnerungsorte” versuchten Etienne François und Hagen Schulze im Jahr 2001 eine Antwort zu geben. „Seit zehn Jahren ist Deutschland wieder zu einem ‚normalen‘ Nationalstaat geworden”, daher komme der „Frage nach der Identität der Deutschen und nach der Verschränkung zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft als Nation“ eine neue Dringlichkeit und Bedeutung zu.
Tatsächlich war der Versuch „Kristallisationspunkte“ der nationalen Erinnerung zu kanonisieren, nur ein Teil weitreichender und thematisch vielfältiger Selbstverständigungsdiskurse der Berliner Republik. Dabei machte sich um die Jahrtausendwende eine Meisterzählung breit, nach der die Geschichte der Bundesrepublik eine „Erfolgsgeschichte“ war und die Deutschen nach „langem Weg“ im „Westen“ angekommen seien. Höhepunkt dieser kritischen, aber versöhnlichen „Normalisierung“ waren die nationalen Identitätsdebatten um die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land 2006.
Inzwischen ist die Aufbruchsphase dieses identitären „nation building“ vorüber. Die deutsche Einheit gilt nicht mehr als „vollbracht“, sondern wird (zumindest kulturell) heftig in Frage gestellt. Der Aufstieg der AfD, die Fragen nach der Rückkehr von „Weimarer Verhältnissen“, die postkoloniale Herausforderung der deutschen Erinnerungskultur, die „Zeitenwende“ und der russische Krieg gegen die Ukraine bringen Verunsicherungen und eine neue normative Nervosität mit sich. Das ist zumindest eine Hypothese, die es zu überprüfen gilt.
Vor diesem Hintergrund setzt sich die Tagung das Ziel, einschlägige normative Identitätsdebatten der Berliner Republik seit der Wiedervereinigung zu historisieren. Dabei sollen folgende Leitfragen diskutiert werden: Welche Konzepte und Leibilder deutscher Identität wurden wann und von wem vertreten? Welche setzten sich warum durch und wie änderten sie sich? Und: Gibt es eine neue normative Nervosität?
Stichworte:
Vorgeschichte der Gegenwart; Selbstverständigung der Berliner Republik; Krise der Erfolgsgeschichte BRD
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